Prolog
Das Sein ist das umgeformte Dasein des Seins.
Ich kam hierhin ohne zu wissen, dass ich da bin. Ich tat Vieles, ohne zu wissen was ich tat. Die anderen taten auch viele Dinge mit mir, ohne zu wissen was sie taten. Der einzige Unterschied zwischen mir und den anderen Seienden, die sich um mich kümmerten, lag daran, dass ich ein Kind und sie Erwachsene waren. Dass mein Sein so ist wie es ist und nicht so wie es «sein sollte», ist denen zu verdanken, die mein Sein programmierten. Sie formten mein Sein so um, bis es dem ihren kompatibel war.
1.
Als ich auf die Welt kam war ich wahrscheinlich ein pures Sein. Ein rohes Produkt der Mutter Natur: verschleimt, nackt und dunkel. Überlieferungen nach soll ich schreiend und urinierend auf die Welt gekommen sein. Die Brille des Arztes soll das Opfer meines unkontrollierten Verspritzens gewesen sein.
Eine hervorragende theatralische Ankunft. Nicht aber für alle. Einige haben sich geärgert. Mein Grossvater zum Beispiel. Er soll mir dabei das erste Gebot ausgesprochen haben: «Du sollst den Menschen nicht aufs Gesicht urinieren». Amen! Ich habe nie mehr in meinem Leben jemandem auf das Gesicht gepinkelt.
Nochmals: die Mutter Natur brachte mich zur Welt. Ich pinkelte dem Arzt ins Gesicht. Mein Grossvater brachte mir das erste Gebot der Kultur bei und ich hörte auf, überall und schamlos herum zu pinkeln.
Sie haben es richtig verstanden. Dies nennt man: E r z i e h u n g!
Du bist zwar geistig nicht dabei, hast keine Ahnung was mit dir geschieht, aber du wirst schrittweise und mit vollem Elan von einem primitiven zu einem kultivierten Sein umgewandelt. Dies geschieht mit jedem, der durch das Tor des Lebens eintritt. Mit allen. Ohne Ausnahme!
Warum?
Weil es eine Voraussetzung ist das jedes frischgeborene Sein erfüllen muss. Sonst wird es nie «Pacem in terris» geben. Dies brachte mir meine Mutter als erstes bei. «Frieden», sagte sie, «ist der einzige Zustand, der die anderen Seienden erträglich macht».
2.
Die Theorie meiner Mutter besagt nicht, das Seiende soll so erzogen werden, bis es den Nächsten so lieben kann wie es sich selbst liebt. Nein sie will, dass das Seiende – um mit den Anderseienden überhaupt koexistieren zu können – seine Andersartigkeit dafür einsetzt, um sich von den vielen expansionsartigen Kulturoptionen zu schützen. Das Dasein muss also «authentisch» bleiben. Und dies heisst ungefähr so: Wir sind die Guten, die dort sind die weniger Guten, da wir aber keine Verbrecher sind und nicht töten wollen ertragen wir sie, die Andersseienden, bis sie unsere Umwelt «freiwillig» verlassen haben.
3.
So begann mein Sein eine Form zu bekommen. Eine kultivierte Form.
Später lernte ich noch viele andere gute Dinge. Sobald ich etwas tat was die Mutter Kultur nicht gut fand, hörte ich die Stimme meines Grossvaters oder die meiner Mutter: «Du sollst nicht…». Je älter mein Sein wurde, desto anständiger wurde ich: ich hörte auf zu Spucken, sagte kein Wort beim Essen, hörte auf öffentlich zu Furzen und warf nicht mehr meinen roten Schal des Pioniers, den mir Genosse Tito per Post geschickt hatte auf den Boden.
Als mein Grossvater alt wurde und sein billiggemachtes Gebiss kein einziges vollständiges Wort mehr zuliess; als meine Mutter das ständige Anderswerden meines Vaters nicht mehr ertragen konnte und von zu Hause abhaute, fuhr mein Vater mit der Weiterperfektionierung meines Seins fort.
Er tat es anders. Grober. Besser. Er sagte nie «du sollst nicht…», sondern immer «du musst…». Kein «aber du sollst, weil dein Sein nicht so sein soll wie es gewesen ist als es Sein geworden ist». Einfach, klar: «Du muss das und dies tun». Basta.
Seine klare Sprache genoss ich aber nicht lange. Eines Tages ergriff er meine Hand und brachte mich vor ein Haus, das grau und wie eine Kaserne aussah. Es war das Schulgebäude.
Am Mittag dann wurden wir beide, ich und mein Sein, erlöst. Er holte mich wieder ab.
Aber gegen Abend ging wieder alles von vorne los. Er ergriff uns beide, mich und mein Sein, wieder an der Hand und brachte uns vor ein anderes Gebäude. Ein komischeres. Welches formlos aussah und ein langes vertikal gespitztes Rohr hinter sich hatte. Es war die Moschee.
Von da an waren die Leute im Inneren dieser geschmacklos eingerichteten Häuser zuständig für mein Sein.
Mein Sein sollte dort ins Werden befördert werden.
4.
Meine Mutter bemühte sich, mir ihre Erträglichkeitstheorie beizubringen. Ihre Kultur war nicht von da wo wir lebten. Sie war jenseits der Balkangrenze geboren. Dort wo die Osmanen es nie geschafft hatten Fuss zu fassen. Mein Vater hingegen verfluchte jeden Morgen alle existierenden Kulturversionen, obwohl er keine von denen erklären oder geschweige denn weitergeben konnte. Er hasste alle, weil er sie als die Quelle aller Unterschiede sah, die seine Welt durcheinander brachten und vor allem hasste er sie, weil er nur vor der Hälfte der Gräber seiner Ahnen hinknien durfte. Er durfte nur bis zum Grab seines Grossvaters hingehen, weiter durfte er nicht. Denn die Hälfte seiner Familie gehörte dem Okzident an und die andere Hälfte dem Orient. Ein Teil der Gräber war mit einem Halbmond versehen und der andere mit einem Kreuz.
Mein Vater liebte den Kommunismus. Nicht weil er etwa diese Ideologie verstand, sondern weil sein Führer ihm so befahl. Tito liebte er sehr. Und Tito wusste gar nicht, dass es ihn gab.
5.
Jeden Morgen wenn ich in der Schule wollte, hörte ich meinen Vater leise singen. Immer den gleichen Vers, der auf Deutsch so zu übersetzen ist: «Lassen Sie Kirchen und Moscheen, denn die Religion der Albaner ist…Genosse Tito…».
Irgendwann fand ich heraus, dass dieser Vers, den mein Vater immer beim Abstauben von Titos Portrait sang, verboten war. Ich stellte ihn zur Rede. Er gab mir einen Tritt und sang noch lauter. Einige Zeit später fragte ich ihn wieder, warum er mich in die Moschee schickte, wenn er an Tito glaubte und dieses komische Lied sang, das voller Widersprüche war. Er gab mir wieder einen Tritt. Diesmal tat es richtig weh. Um mich zu trösten sagte er mir: «wir alle sind gezwungen mehrere Seelen in uns zu tragen. Eine für den Kommunismus, eine für die Moschee und eine für uns selbst. Du musst lernen, diese Seelen nie am falschen Ort zu zeigen. Wenn du das tust bist für immer verloren».
6.
In jenem Augenblick verstand ich, dass meine Eltern gar nicht so unterschiedlich waren. Beide waren Seiende, die obwohl sie die Liebe als ein Prozess des Ertragenwerdens oder Ertragenkönnens verstanden, einander nicht ertragen konnten.
Beide hatten die gleiche Theorie. Jedes Sein – um sich erträglich und kompatibel mit den anderen Seienden zu machen – muss sich mehrere Identitäten anlegen. Meine nichtakademisch geschulten Eltern glaubten, ich könne nur dann heil überleben, wenn ich mehrere Identitäten besässe und sie nie am falschen Ort verwendete. Das heisst, die Fähigkeit zu haben zwischen mehreren Identitäten zu pendeln ohne sie gegeneinander aus zu spielen.
Ist das möglich?
Kein Mensch kann behaupten, dass er in seinem Leben nie versucht hat ein anderer zu sein als er ist. Das können nur Maschinen. Denn jeder Wunsch in uns etwas zu werden, etwas zu erreichen verbirgt in sich die Konstruktion einer anderen Identität, als die die wir haben.
Unser Dasein ist ein Mosaik von Fragmenten, die zwingend zu mehreren Identitäten führen. Der Mensch kann nicht die gleiche Identität, die er nackt vor dem Spiegel pflegt, auch in die Öffentlichkeit mitnehmen. Und schon in diesem Stadium, bevor wir überhaupt nur das Haus verlassen haben, könnte uns die Medizin als Seiende mit «Multiplen Persönlichkeitsstörung» abstempeln. Als Kranke. Sind wir tatsächlich krank?
7.
In der Schule stand ich vor dem gleichen Bild wie zu Hause. Tito war allgegenwärtig. Wir durften nur dann Da – Sein, wenn er auch da war. Stalin und Lenin waren inzwischen pensioniert. Marx war schon lange beerdigt worden.
Mein Lehrer sagte mir, dass es in unserem Lande keine Armen geben würde. Reiche auch nicht. Nach ihm waren wir alle gleich. Eine Gemeinschaft von gleichberechtigten Individuen, die das gleiche Ziel hatten: wie der Andere, wie alle Anderen auszusehen. Und alle Anderen, samt mir, sollten wie der Führer sein.
Was weiter? «Was geschieht wenn wir das Ziel erreicht haben und alle gleich wie der Führer sind, alle gleich reich, Rot und schön?», fragte ich mal den Lehrer. Es klingelte. Die Stunde war vorbei. Der Lehrer nahm sein «Register» und verschwand ohne zu antworten.
Die Antwort erhielt ich am Abend. Der Hodscha (der Imam der Moschee, der auch gleich als Islamlehrer fungierte) erklärte uns, was mit uns wird, wenn wir alle wie der «Führer» geworden sind.
«Danach werdet ihr im Paradies landen», sagte er und fuhr fort, «wenn ihr das getan habt was der Prophet von euch verlangt und dieses Leben deswegen verlassen müsst, dann fliegt ihr durch alle Schichten des Himmels direkt ins Paradies. Dort wo ihr alle gleich und schön aussieht, von wunderhübschen jungen Frauen bedient werdet und mit Allah Früchte essen werdet».
Der Lehrer wusste, dass er log. Ich wusste es auch. Alle wussten es. Es gab Reiche und Arme. Keiner wollte wie der Andere aussehen. Nur der Hodscha wusste es nicht, dass er log. Dass alle logen. Er sang uns stundenlag vor ohne ein Wort von dem was er uns vorlas zu verstehen. Es war nicht seine Muttersprache und nicht eine von diesen Sprachen die er verstand. Das Buch, das er vorlas war von einem fernen, ganz fernen und unbekannten Volk. Er tat aber so als wäre er einer von denen, einer von denen die schon mit Allah gefrühstückt hatten. Er spielte seine Rolle so gut wie er konnte. So wie ich. Wie der Lehrer, wie mein Vater.
Wir spielten so lange diese viele Rollen, bis wir eines Tages feststellten, dass wir es in der Tat vergessen hatten wer wir tatsächlich waren und was wir werden wollten.
Wie war ich ganz am Anfang? Wie war ich, bevor ich begann so zu tun als würde ich dem Lehrer und dem Hodscha glauben?
Als uns klar wurde, dass wir alles waren aber nicht das was wir am Anfang zu sein glaubten und sein wollten, begannen wir unser Dasein mit dem zu rekonstruieren was uns übrig blieb. Aus den Trümmern unserer Seelen versuchten wir, jeder für sich, sein Dasein zu formen. Da aber keiner wusste was wem gehörte, beanspruchte jeder alles für sich. Alles oder gar nichts. Es wurde Krieg. Jeder gegen jeden.
Ich ging nicht hin. Ich verschwand. Ohne Identität und ohne Geschichte.
8.
Zwischen dem was ein Mensch ist und dem was er sein will und dem was er sein wird stehen grosse leere Räume, Lücken, die er mit nichts füllen kann. Er ist dazu unfähig. Alles was er machen kann, ist Brücken zu bauen zwischen diesen drei inneren und äusseren Identitäten. Wenn er dies erreicht, dann hat er die Welt überwunden und kann voller Stolz behaupten er sei einer von denjenigen, die allen Theorien und Ideologien zum Trotz es geschafft haben, die Existenz des Übermenschen mit der ihren ersetzt zu haben.
Noch nicht ganz da und schon schuldig. Adam und Eva sind daran schuld, dass der Mensch sein ganzes Leben damit verbringt, seine von Sünden geplagtes Wesen zu bereinigen. Im Falle, dass er es nicht schafft sich bis in die Knochen zu säubern, wird er wie ein Stück Schweinefett auf dem Grill in der Hölle schmelzen. Jesus Christus sei die Alternative, respektive seine Lehre der Nächstenliebe, die von meinen Eltern als Phantasie deklassiert wurde.
Dies ist die biblische Theorie.
Diese vom Koran ist dramatischer. Das höchste Ziel des Menschen sollte sein Märtyrertum sein. Also er soll sich ein paar Kilo Dynamit um den Hals hängen und sich samt ein paar hundert Ungläubigen in den Tod reissen. So wird er sich einen Platz zwischen unendlich vielen schönen Frauen im Paradies sichern.
Die humanwissenschaftliche Theorie hat eine andere Version: Der Mensch ist das Zentrum. Das Beste im Kosmos. So übertrieben gut, dass er nichts Besseres weiss, als sich selbst stufenweise zu vernichten.
Jede Religion, jede Philosophie, jede Theorie, die versucht das Wesen der zweibeinigen Kreatur ein Stück zu verbessern oder zu ändern, endet in einem Fiasko! Das Resultat ist zugleich eine Diagnose. Unheilbar! Ewige Depression. Selbstmord. Selbstvernichtung. Der Mensch spinnt. Er hat immer gesponnen. Es gibt kein anderes Wesen in der Natur, das so sehr damit beschäftigt ist sich selbst zu töten wie der Mensch, so die meisten Theorien und Religionen an die der Mensch heute glaubt. Aber warum ist der Mensch «unheilbar»?
Fazit: Weil er so programmiert ist zu denken. Sein Betriebssystem ist so gebaut, dass er nur durch ewige Behebung seiner Fehler lernen kann. Er ist eine Fehlerfabrik, die ohne Support explodieren würde. Diesen Support gibt ihm die Kultur mit dem sein Dasein konstruiert wurde. Er ist fehlerhaft, falsch programmiert. So wie mein Sein. So wie deines auch!